Über die Wichtigkeit

Während des Konfigurationsprozesses ist jede Tätigkeit einmal die letzte in der Produktionskette. Was wir machen können ist zu sagen, dass eine Tätigkeit an Wichtigkeit gewinnt, wenn viele andere auf eine Zuordnung warten. Entweder dann wirklich über die „Entfernung“ zum Bedürfnis oder über den zeitlichen Abstand zur Bedürfnisvermittlung (je länger ein Bedürfnis unbefriedigt ist, desto wichtiger wird es, dass sich jemand dem annimmt). Ich denke, wenn wir von dem Kreislaufsystem wegkommen, haben wir da tatsächlich mehr Möglichkeiten, so etwas zu bestimmen.

Wahrscheinlich macht es Sinn, nicht (nur) über die Wichtigkeit der einzelnen Tätigkeiten zu reden, sondern ganz allgemein, was wichtig ist (in unserem Kontext). Und ganz große wäre natürlich

  • Unabhängigkeit von persönlichen und sachlichen Herrschaftsstrukturen

Also zu unterstützen, dass keine anderen Menschen über einen entscheiden können und, dass Geld bzw. das Geld-verdienen nicht darüber bestimmt, wie das eigene Leben geführt wird (wobei für uns wohl die Unabhängig von Geld die tragende Rolle spielt). Ich denke, das von der Perspektive zu betrachten ändert einiges. Wenn die Miete etwa einen großteil des Lohn einnimmt, ist das reale Arbeitszeit (vielleicht 10-15 Stunden in der Woche), die jemand leisten muss und ihn/sie erschöpft, während er/sie auch Commoning betreiben könnte. Wenn es also jemand schafft mietfreies Wohnen im Sinne von Wohnraum als Commons zur Verfügung zu stellen (Als Bauarbeiter:in oder über einen politischen Prozess) ist etwas wichtiges geschafft worden und sollte auch entsprechend Anerkennung finden (was immer das bedeutet).

Ich finde es gerade fast ein wenig lächerlich, dass ich als Anwender sagen muss: „Mietfreier Wohnraum ist mir 5% wert“ … und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person dann auch mietfrei leben kann, ist mitunter sehr gering - es wird ja nicht ständig privates Eigentum an Wohnraum in Commons-Strukturen überführt und auch nicht ständig Häuser durch das Mietshäuser-Syndikat übernommen, in denen dann auch noch ansprechender Wohnraum frei ist.

Was mir reichen würde: Irgendwo in der Software beantworte ich die Frage: „Ist dir mietfreier Wohnraum wichtig?“ und wenn ich „ja“ sage, kann ich meinen Anspruch angeben und dann ist gut - dann habe ich nichts mehr damit zu tun. Und wenn wirklich Wohnraum als Commons frei wird, der zu meinem Anspruch passt, dann werde ich benachrichtigt und ich kann mit anderen - die ihn ebenfalls verwenden wollen - in einen sozialen Prozess treten und wir klären untereinander, wer ihn bekommt oder wie wir Konflikte sonst lösen können. Und da können mir diese Reputationswerte richtig helfen, auch wenn sie auf die Softwarestruktur keinen Einfluss haben. Das ist dann einfach ein Punkt in dieser Diskussion, das die eine Person „viel für andere getan hat“ o.ä. Aber ein anderer Punkt, der bestimmt fallen wird, ist zum Beispiele die Familiensituation, in welcher die Beteiligten gerade sind. Und die eine ist gerade mit Reputation überhangen, aber der andere hat drei Kinder - die Reputation mag in der Diskussion auf jeden Fall eine Rolle spielen, aber wie diese Situation geklärt wird ist völlig offen.

Das hatte ich bist jetzt gerade auch gar nicht so richtig auf dem Schirm: Wenn ein Mittel zur Verfügung gestellt wird und es zig Menschen bei ihrer Bedürfnisbefriedigung hilft, dann ist ja überhaupt noch nicht ausgemacht, wer es bekommt. Das kann dann damit ausgemacht werden, „wer das Bedürfnis am höchsten gewichtet hat“, aber ja genauso „wers halt gerade mehr braucht“. Oder, wenn es sich nicht gerade um eine Wohnung handelt, wie es möglichst viele gemeinsam verwenden können. Das sind ja alles soziale Prozesse, denen wir höchstens eine Kommunikationsplattform zur Verfügung stellen können.

Tatsächlich habe ich jetzt das erste Mal das Gefühl, das wirklich ernst zu nehmen: Zwischen allen Tätigkeitsmuster ist ein sozialer Prozess und immer wieder neue Absprachen zwischen Beteiligten. Es geht also lange nicht nur um die Reputation der Bedürfnissteller:innen, sondern genauso um die Personen, die Bedarfe stellen. Auch sie wollen Mittel, die von anderen zur Verfügung gestellt werden, um sich den eigenen Tätigkeiten annehmen zu können (die ja auch wieder zu ihrem Vorteil sein können etc.). Wie wichtig die Bedürfnisse also sind, für welche die Tätigkeiten stattfinden, ist wirklich nur ein roter Faden, aber muss nicht das wesentliche sein. Die Richtung des Re-Produktionsprozesses entscheidet sich auch über die Reputation derjenigen, welche die Tätigkeiten ausführen. Oder eben an deren Lebenssituation. Das „Care“ findet auch in den sozialen Prozessen statt, wenn es darum geht, wer ein Mittel verwenden kann. Können wir unterstützen, dass Lösungen gefunden werden können, die für alle zufriedenstellend sein können? Wie sehen Absprachen in diesem Raum aus? Kann ich jemanden zusagen, dass wenn Wohnraum frei wird, er vor seiner Seite aus ihr den Vortritt lassen würde, auch wenn das, worum es gerade geht, etwas vollkommen anderes ist (irgendein Bedarf in irgendeinem Prozess)? Solche Absprachen müssen wir einfach nur transparent machen können, damit - wenn es der Fall wird und ein soziale Prozess über die Verwendung eines frei gewordenen Wohnraums entsteht - diese Absprache allen einsichtig ist. Und vielleicht wird sich trotzdem gegen diese Absprache entschieden - aber wie eine Reputation ist sie sichtbar und steht im Diskurs.

Mit dem Hintergrund finde ich es fast schon lächerlich darüber nachzudenken, spezfische Bedürfnisse zu gewichten. Wenn ich sage „ich finde Brötchen wichtig“, dann unterstütze ich im besten Fall nur, dass mehr Menschen Brötchen zur Verfügung stellen - aber es ist immer noch nicht gesagt, ob ich welche davon bekomme. Wieder: Da muss ich in einen sozialen Prozess, wie auch immer dieser aussehen mag. Das muss ja keine tägliche Auseinandersetzung sein - so eine Abmachung kann ja über Jahre bestehen bleiben und erst in Krisenzeiten müsste das vielleicht neu diskutiert werden.

Die Konsequenz soweit ist eigentlich nur: Das Gewicht der Tätigkeiten etc. ist gar nicht so riesig wichtig für mich und wenn diese Zahlen auch als roter Faden vielleicht bestehen bleiben, ist die persönliche Reputation (ohne irgendwelche Auswirkungen auf die Softwarestruktur) viel wichtiger.

Spannend. Und wenn ich an unsere Diskussionen der letzten Wochen zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass ihr das wesentlich mehr auf dem Schirm hattet als ich :slight_smile:

Vielen Dank auf jeden Fall für den Anstoß das neu zu denken. Ich für mich jedenfalls meine gerade einen riesen Schritt gemacht zu haben, um unsere breit gestreute Diskussion neu denken zu können.

Nachtrag: Soweit ich das sehe löst das ja auch diese dämliche Problematik mit Leuten die sich über die Software vermitteln und solchen, die sich nicht über die Software vermitteln (also grob zwischen Produktion und Care). Wenn die Mittel keine klaren Adressaten haben, aber klar ist, dass sie gebraucht werden und immer am Ende ein sozialer Prozess steht - dann werden Leute, die andere pflegen zum Beispiel, auf natürlichere Weise mit einbezogen. Wenn die Person eine Geschichte erzählt, wie sie jeden Tag alte Menschen durch ihr Leben begleitet, wird sie bestimmt nicht solchen gegenüber benachteiligt, die sich fleissig digitale Punkte zusammengespart haben (klar, ich übertreibe - aber ihr wisst, was ich meine). Den sozialen Prozess zwischen den Tätigkeitsmustern ernst nehmen und unterstützen verändert alles.