Theorie- Vor wissen I
Ganz kurz: Ja, durch die Software lassen sich kleine Prozesse unterstützen, wie in der Nachbarschaft füreinander zu kochen oder Kinderbetreuung gemeinsam zu organisieren. Aber gleichzeitig kann sie der Boden für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung sein, wie sie folgend angerissen wird. Beide Momente sind dabei genau gleich – es geht darum, sich um sich selbst und seine Mitmenschen zu sorgen und entsprechend aktiv zu werden bzw. überhaupt die Möglichkeit aufzubauen, in dieser Weise und ohne zueinander in Konkurrenz zu gehen für sich selbst und andere da zu sein. Wenn dich die Theorie nicht interessiert, dann überspringe das Kapitel einfach.
Was ist der Zweck dieser Software? Nicht mehr oder weniger als eine grundlegende emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft zu fördern bzw. - wenn das ganz unbescheiden ausgedrückt werden darf – in einer bestimmten Weise sogar erst möglich zu machen. Wir konstruieren hierfür kein Modell , nach welchem sich Menschen zu richten haben, sondern unterstützen individuelle Handlungsmöglichkeiten, die darauf abzielen, sich selbst und anderen Menschen zu helfen. Und diese gegenseitige Unterstützung kann in der Nachbarschaft stattfinden und sehr einfach vonstatten gehen. Sie kann aber auch abhängig von Dingen sein, die nur über die komplexe Kooperation von vielen Beteiligten verfügbar gemacht werden können. Besonders auch diese komplexen Strukturen sollen durch die Software ermöglicht werden.
Welche Art von gesellschaftlicher Veränderung soll das sein? Das Ziel ist die freie Entwicklung eines jeden Menschen entlang der eigenen Fähigkeiten und Interessen. Die Voraussetzung dafür ist, dass zumindest innerhalb dieser Struktur keine Menschen über andere bestimmen können, dass Geld niemals zwischen uns und dem, was wir benötigen, steht und ganz allgemein, dass wir nicht strukturell von den Dingen ausgegrenzt sind, die wir für unser Leben benötigen.1 Und weiter kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn wir die gesellschaftlichen Strukturen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse bewusst und auf Augenhöhe2 regeln können. Um sich darüber klar zu werden, was das bedeutet, muss kurz auf die heutige Situation eingegangen werden.
Was ist die heutige Situation? Unser Leben wird heute durch Geld bestimmt. Wir brauchen es um unsere Miete zu zahlen, wir brauchen es um an Lebensmittel zu kommen, wir brauchen es für unsere Freizeitaktivitäten etc. Und die meisten von uns kommen an dieses Geld über Lohnarbeit oder vielleicht auch über selbstständige Arbeit. Beiden ist gleich, dass sie dem Markt unterworfen sind. Wer selbstständig ist, kann nicht machen, was er oder sie für richtig empfindet, sondern braucht entsprechende Kunden, die bestimmte Aufträge offen haben. Und wer gegen Lohn arbeitet, braucht einen Arbeitsplatz, welcher selbst ein laufendes Unternehmen voraussetzt. Das Unternehmen ist dabei selbst dem Markt unterworfen. Es steht in Konkurrenz zu anderen Unternehmen und muss die eigenen Produkte besser oder billiger als diese anbieten. Wenn es das nicht schafft, machen sowohl die Unternehmer als auch die Aktionäre Verluste, aber auch die Lohnarbeiter können ihren Arbeitsplatz verlieren. Für alle am Unternehmen Beteiligten ist es wichtig, sich am Markt durchzusetzen, damit man nicht selbst, sondern die anderen leer ausgehen. Aber um sich am Markt durchzusetzen, muss gespart werden. Wenn Unternehmen kosten sparen, bedeutet das für Lohnarbeitende: Unsere Löhne müssen möglichst gering sein, dafür müssen wir möglichst intensiv arbeiten und das einen möglichst großen Teil unserer Tages- und damit Lebenszeit. Kosten sparen bedeutet aber auch: Die notwendigen Materialien dort zu beziehen, wo sie am günstigsten sind. Also einerseits von anderen Unternehmen, in denen die Mitarbeiter möglichst schlechte Arbeitsbedingungen haben, und anderseits durch Rohstoffe aus etwa Monokulturen, der Abholzung des Regenwaldes oder durch die Verwendung von billigem Plastik oder anderen Materialien.
Es ist hier kein Platz, um auf die gesamte Dynamik einzugehen, welche passiert, wenn wir als Menschen unsere Tätigkeit dem Markt unterordnen.3 Aber nur so viel soll gesagt sein: Durch den Markt geschieht eine Verselbstständigung der Gesellschaft. Durch die Konkurrenz können wir nicht so handeln, wie es uns etwa einer Ethik nach als richtig erscheint. Und der Markt und das Geld sind ein und dasselbe. Und das Geld ist im höchsten Maße praktisch, da darüber die verschiedensten Arbeiten gleichsetzt werden können. Und ja: Die heutige moderne Gesellschaft ist ohne Geld nicht denkbar. Eben weil es überhaupt eine Vermittlungsform ist, durch welche auf die Befehlsgewalt von Personen übereinander verzichtet werden kann. Über Geld kann etwa die Arbeit einer Kinderpflegerin aus Deutschland mit der Arbeit einer Architektin aus Japan gleichgesetzt werden – ohne sich zu kennen, kann die eine für die andere tätig werden, wenn auf der jeweils anderen Seite eben eine bestimmte Geldmenge vorhanden ist. Über Geld wird das möglich, allerdings ist Geld auch eine primitive Vermittlungsform . Der Tausch bzw. die Vermittlung über Geld setzt voraus, dass jedes Ding auf einen Geldwert – eine Zahl – reduziert wird.4 Das Haus hat einen Geldwert, der Tisch an dem ich sitze auch und selbst meine Zeit, wenn ich für ein Unternehmen arbeite. Aber hat es das wirklich? Hat das Haus wirklich einen Geldwert? Das ist mehr als eine rein philosophische Frage und ich würde sie nicht stellen, wenn es nicht unbedingt mit dieser Software zusammenhängt. Um diese Software zu verstehen, muss die Frage nach der sozialen Form geklärt werden.
Was ist eine „soziale Form“? Eine soziale Form ist etwas, das durch eine bestimmte Weise entsteht, wie wir als Menschen mit den Dingen der Welt umgehen. Das Haus hat heute wie selbstverständlich einen Geldwert, aber keine Wissenschaftlerin der Welt wird auch nur ein Wertatom in den Mauern finden können. Wenn du dich jetzt umschaust, wirst du jedem Ding, das du siehst, einen solchen Geldwert zuschreiben können. Und wenn jemand jetzt zu dir kommt und etwas davon haben möchte und das Ding auch dir gehört, dann könntest du dafür einen Geldbetrag nennen, der dir dafür fair erscheint. Unabhängig ob du das jetzt verkaufen möchtest oder nicht. Ich bitte dich, schau dich kurz um und prüfe das selbst. Ich meine das wirklich ernst.
Du kannst jedem Ding ein solche Zahl zuschreiben, aber dadurch ändert sich an der Materie des Dinges selbst nichts. Du kannst es gegen Geld verkaufen, weil es dein privates Eigentum ist und du entscheiden kannst, was damit geschieht. So funktioniert unsere heutige Gesellschaft. Aber die gesellschaftliche Dynamik des privaten Eigentums führt dazu, dass immer weniger Menschen immer mehr Verfügungsmacht haben, also darüber bestimmen können, wie mit den Dingen der Welt umgegangen wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lebst du daher auch nicht in deiner eigenen Wohnung, sondern diese gehört jemand anderen und du musst einen guten Teil deines Lohns (oder Verdienstes deiner selbstständigen Arbeit) an diese Person weitergeben, damit du darin wohnen darfst. Anders gesagt bedeutet das: Ein paar Tage im Monat arbeitest du nur für diese Person . Privates Eigentum schließt zuerst einmal immer alle anderen aus und dieser strukturelle Ausschluss kann – wie am Beispiel der Wohnung – zum Vorteil genutzt werden, damit andere für einen selbst arbeiten gehen müssen. Wenn auf diese Weise mit den Dingen der Welt umgegangen wird, dann haben diese Dinge die soziale Form der Ware . Alles kann dabei zur Ware werden, wenn es nur gegen Geld getauscht wird bzw. getauscht werden kann. In der Softwarestruktur gehen wir mit den Dingen allerdings nicht als Waren, sondern als Commons um.
W as ist ein Commons? Commons ist die soziale Form der Dinge, die in Commoning- Prozessen verwendet werden. Und Tätigkeiten fallen in die Kategorie des Commonings, wenn sie auf die Befriedigung von Bedürfnissen abzielen, selbstorganisiert und selbstbestimmt sind, niemand strukturell davon ausgeschlossen wird und sowohl die Form der Kooperation als auch Konflikte auf Augenhöhe geklärt werden.5 Im Verlauf dieser Textreihe wird noch klarer werden, was das genau bedeutet. Und falls es wirklich möglich sein sollte, dass wir es durch Commoning schaffen unabhängig vom Markt und von Geld zu werden, dann wirst du auch merken, dass gesellschaftliche Veränderung immer auch eine individuelle Veränderung bedeutet. Dann siehst du dich im Raum um und die Dinge haben keinen Geldwert mehr, sondern nur noch den Zweck die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen und unterliegen hierbei bestimmten Absprachen und Regeln. Das wäre dann auch der Moment, in dem du es wohl absurd finden würdest, monatlich einer anderen Person Geld zu überweisen, weil du in einer Wohnung wohnst. Du würdest in einer Wohnung leben, weil du eine Wohnung zu Leben brauchst und diese Wohnung vielleicht schlicht zur Verfügung stand.
Und nochmal: Was ist der Zweck dieser Software? Alle Dinge zu erfassen, welche für Commoning verwendet werden können, den sozialen Prozess über deren Verwendung unterstützen und den Aufbau von komplexen Strukturen zur Befriedigung vermittelter Bedürfnisse zu ermöglichen, in welche sich durch den Prozess der Selbstzuordnung den eigenen Fähigkeiten und Interessen nach eingebracht werden kann.
Und w as ist der Kontext der Textreihe? Auf die Notwendigkeit einer softwaregestützten Vermittlungsform zur Aufhebung kapitalistischer Verhältnisse wurde im Essay „Der Ausdehnungsdrang moderner Commons“ (2018) geschlossen. Im Ausdehnungsdrang wurde sich dabei an „Kapitalismus aufheben“ (2018) von Stefan Meretz und Simon Sutterlütti abgearbeitet und herausgestellt, dass sich zwei Formen des Commonings unterscheiden lassen und verschiedenartig funktionieren müssen: (interpersonales) Commoning, wenn sich konkrete Personen direkt aufeinander beziehen und (transpersonales) Commoning, wenn sich in der Vermittlung nicht auf konkrete Personen bezogen wird. Bei der Software geht es speziell um die zuletzt genannte Form. Meretz und Sutterlütti sind Aktivsten im Commons-Institut, zu welchem auch Silke Helfrich gehört. Die Textreihe steht insofern im Kontext zu Helfrichs Arbeiten, dass Helfrich, zusammen mit David Bollier, eine neue Commons-Perspektive eröffnet, in deren Strukturen und Begriffen sich auch die Software-Vermittlung bewegt. Unbedingt hervorzuheben ist ihr Werk „Frei, Fair und Lebendig“ (2019) . Eine im Kontext des Commons-Instituts erwähnenswerte Arbeit – auch wenn diese keinen direkten Einfluss auf das vorliegende Konzept hat – ist „Beitragen statt Tauschen“ (2007) von Christian Siefkes, welcher hierin versucht materielle Produktion nach dem Modell Freier Software zu denken. Der theoretische Ansatz dieser Textreihe gliedert sich weiter in die Strömung der Wertkritik ein und soll damit auch eine Antwort auf die Frage sein, welches Potential zur gesellschaftlichen Veränderung diese Strömung in sich trägt.
Im vierten Teil der Textreihe wird das Theorie-Vorwissen fortgeführt.
1 Siehe auch: Grundrisse (MEW42), S.91
2 Das englische Wort „Peer“ ist zutreffender, allerdings gibt es keine gute deutsche Übersetzung hierfür. Statt der Umschreibung „auf Augenhöhe“ verwendet Silke Helfrich etwa das Wort „Gleichrangige“ ( Frei, Fair und Lebendig , S.77)
3 Einführungen hierzu gibt es sowohl unter Creative-Commons-Lizenz von meiner Seite ( Das Kapital und die Commons) als auch käuflich von z.B. Michael Heinrich ( Einführung in die politische Ökonomie). Beides sind Einführungen zu „Das Kapital“ (MEW23-25) von Karl Marx. Egal, was die Welt sagt: Die Lektüre lohnt sich uneingeschränkt.
4 Vergleiche auch Sutterlütti/Meretz: „Bandbreite: Informationen zur Koordination im Commonismus sind qualitativer Art. Die Informationen benötigen also eine hohe Bandbreite […], wenn sie kommuniziert werden und in einen Vermittlungsprozess eingehen“. (Kapitalismus aufheben, S.179)
5 Beide Begriffe (Commons/Commoning) folgen dabei den Definitionen des Commons-Institut Aktivisten Johannes Euler: „Commoning shall be described as voluntary and inclusively self-organized activities and mediation of peers who aim at satisfying needs" und " Commons is the social form of (tangible and/or intangible) matter that is determined by commoning" ( Conceptualizing the Commons", in Ecological Economics 143 , S.12).